Scripted Reality – das Vortäuschen von Realität etwa in Doku-Soaps – soll gekennzeichnet werden. Das fordert Lothar Hay, Vorsitzender des Medienrats der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein. Kinder und Jugendliche sollten erkennen können, was im Fernsehen Fiktion und was Wirklichkeit ist. Er bezieht sich dabei vor allem auf bestimmte TV-Formate von Privatsendern, in denen Wirklichkeit nachgestellt wird. Die drehscheibe sprach mit ihm über die Gefahren, die von solchen Formaten und der Vermengung von Realität und Fiktion in den Medien ausgehen, und darüber, welche Schritte ergriffen werden müssten, um die Medienkompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu steigern.
Herr Hay, welche Probleme können Kinder mit Scripted Reality haben?
Das erste Problem ist, dass sie Schwierigkeiten haben zu unterscheiden zwischen Fiktion, also einer erfundenen Geschichte, und der Wirklichkeit. Der zweite Punkt ist, dass in diesen Scripted-Reality-Sendungen Lösungen für Probleme vorgespielt werden, die in der Realität nicht funktionieren. Und drittens kann ein großer Anteil der Kinder überhaupt nicht erkennen, dass es sich hier um gespielte Wirklichkeit oder erfundene Geschichten handelt. Wenn sie dann älter werden, gibt es vor allem bei Schülern mit einem höheren Bildungsniveau eine gewisse Tendenz, mit Verachtung auf diejenigen herabzublicken, die sich solche Sendungen ansehen. So können Vorurteile in der Gesellschaft geweckt werden.
Haben Sie dabei spezielle TV-Formate im Blick?
Es geht im Regelfall um Sendungen, die nachmittags auf privaten Sendern laufen, teilweise auch schon am Vormittag, Sendungen wie „Berlin Tag und Nacht“, „Familien im Brennpunkt“, „Köln 50667“, „X-Diaries“, diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wenn man sieht, wie groß der Anteil solcher Formate bei bestimmten Sendern am Nachmittag ist, ist man schon erstaunt.
Wie könnte eine Kennzeichnung von Scripted Reality aussehen?
Auf jeden Fall müsste am Anfang einer solchen Sendung eine einheitliche Kennzeichnung stehen. Aus meiner Sicht gibt es drei mögliche Formulierungen: Personen und Handlung dieser Sendung sind frei erfunden; Personen und Handlung dieser Sendung sind teilweise erfunden; diese Sendung enthält eine Mischung aus erfundenen und realen Elementen. Wichtig ist, dass dieser Hinweis am Anfang einer Sendung lange genug und in ausreichender Schriftgröße gezeigt wird. Oft läuft er, wenn überhaupt, nur am Ende einer Sendung so schnell durch, dass man ihn gar nicht mitbekommt. Er müsste also am Anfang und am Ende einer Sendung gezeigt werden. Und da es bei den Privaten auch viel Werbung gibt, müsste er bei Wiederaufnahme der Sendung erneut laufen, damit Kinder und Jugendliche wissen, dass nicht echt ist, was da zu sehen ist.
Sicherlich haben auch manche Erwachsene Probleme, diese Scripted Reality zu durchschauen.
Da muss ich Ihnen Recht geben. Teilweise wird ja mit Mitteln einer Dokumentation gearbeitet. Das Gesicht wird unkenntlich gemacht, und es wird so getan, als schalte sich der Schulpsychologe ein etc. Auf diese Weise wird bewusst der Eindruck erweckt, es handele sich um eine reale Geschichte. Man braucht schon ein gewisses Maß an Medienkompetenz, um das zu durchschauen.
Wie verhält es sich in den unterschiedlichen Gattungen: Existiert das Problem auch im Radio? In Print?
Im Radio ist es mir bisher nicht aufgefallen. Hier gibt es allenfalls das Problem, dass zwischen Werbung und Redaktionellem nicht richtig getrennt wird. Bei Printmedien steht über der Werbung meist groß darüber: Anzeige. Ich sehe das Problem in erster Linie im Fernsehen.
Die digitale Entwicklung bringt in Zukunft vielleicht noch vielmehr derartiger Probleme mit sich. Haben Sie in Ihrer Arbeit bereits neuartige Phänomene beobachtet?
Wir beschäftigen uns auf Ebene der Landesmedienanstalten intensiv mit dem Thema Jugendmedienschutz. Der greift natürlich aufgrund der klaren Vorgaben für das Fernsehen in Deutschland, gilt grundsätzlich aber auch für Angebote im Internet. Schwierig ist seine Durchsetzung jedoch zum Beispiel bei Google. Das Unternehmen sagt immer, es stelle nur eine Plattform zur Verfügung. Aber wenn man sich dann Youtube ansieht, fällt auf, dass dort in vielen Fällen durch die Inhalteanbieter selbst der Jugendschutz überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das muss auf europäischer Ebene diskutiert werden. Wie kann man Grundlagen für den Jugendmedienschutz schaffen, die auch europaweit greifen? Und wenn man sieht, wo die Server stehen, versteht man, dass das Problem sogar über Europa hinausgeht. Auch eine Verschmelzung von linearen und nonlinearen Angeboten findet statt – zwischen Fernsehen und Internet. Viele junge Menschen können gar nicht mehr unterscheiden, ob sie jetzt im Fernsehen gelandet sind oder im Internet.
Müsste mehr zum Schutz der Kinder in der Medienlandschaft getan werden? Gibt es hier grundlegende Defizite?
Das große Problem ist die Vermittlung von Medienkompetenz. Dafür sind im Regelfall die Landesmedienanstalten zuständig in Zusammenarbeit mit den Bildungsministerien der einzelnen Bundesländer. Bei diesem Thema gibt es riesige Defizite, vor allem auch in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Hier liegt ein Hauptanliegen der Landesmedienanstalten. Jeder ausgebildete Lehrer sollte Grundkenntnisse der Medienkompetenz vermitteln können. Und das nicht mit erhobenem Zeigefinger. Das muss Bestandteil in der zweiten Ausbildungsphase sein. Bei der MA HSH ist das ein wesentlicher Schwerpunkt. Zudem bieten wir die Unterrichtshandreichung „Schein & Sein – Inszenierte Wirklichkeit in Reality-TV und Web 2.0“ an, die Lehrer jederzeit nutzen können.
Interview: Stefan Wirner, drehscheibe