Wir sollten uns nichts vormachen, meint Horst Seidenfaden, Chefredakteur der HNA: Im Kosmos vieler Kinder gibt es keine Zeitung mehr. Ein Kommentar.
Es gibt Menschen, die sind der Ansicht, solange die Sonne tagsüber (mal) scheint, gebe es keinen Klimawandel. Und es gibt in unserer Branche jede Menge Kollegen, die der Ansicht sind, Kinder der heutigen Generation würden eines Tages eine gedruckte Zeitung lesen oder gar das Online-Angebot eines Zeitungsverlags in der heutigen Form zu schätzen wissen. Warum sonst hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Kongresse zum Thema Kinderseiten gegeben, in deren Verlauf sich die geschätzten Kollegen gegenseitig glücklich diskutiert haben über die schönen Angebote, die mit hohem Aufwand erstellt wurden und von denen man noch nicht einmal konkret wusste, ob sie die Zielgruppe überhaupt erreicht haben – oder eben nur die Großeltern als Abonnenten?
Was will die Zielgruppe?
Die Zeitungsbranche, sie taumelt durch ihre schwere Krise. Das hat viel damit zu tun, dass man in den vergangenen Jahrzehnten die Instrumente, die in anderen Branchen üblich sind, nie brauchte: Man benötigte keine Marktforschung oder Zielgruppenanalysen. Die Inhalte und das Produkt verkauften sich von allein. Und nun stehen die Verlage zwar vor denselben Problemen, gehen sie aber individuell an – auch eine Form von Ressourcenvernichtung. Das Thema Kinder als Zielgruppe taugt da als Beispiel prima: Wir wissen, dass wir diese Generation als zahlende Nutzer künftig brauchen – wissen aber über die Gruppe selbst so gut wie gar nichts. Wir basteln Kinderseiten, machen Feste mit Kinderschminken in der Annahme, dass so die Marke sympathisch dargestellt wird und man, weil man einmal als neunjähriges Kind der am schönsten geschminkte Tiger der Gemeinde war, sich garantiert künftig die Informationen, die man haben will, nur bei der Marke XY abholen wird. In Wahrheit wird das Problem geschminkt, nicht das Kind.
Wir haben es mit einer Zielgruppe zu tun, über die wir im Jahr 2016 die wichtigsten Erkenntnisse gar nicht haben. Wir wissen nicht, was die Altersgruppen interessiert. Wir wissen nicht, wo sie sich informieren – und wir wissen nicht belastbar, auf welchen Endgeräten sie all dies tun. Deshalb ist das bisherige Vorgehen paradox: Wir bieten Produkte an, über die wir uns freuen, statt Produkte anzubieten, über die die Kundschaft sich freut. Und das alles vor dem Hintergrund, dass wir den Entwicklungen gnadenlos hinterherhecheln. Wenn wir irgendwann ein Angebot für Instagram haben, gibt es längst andere Plattformen, die von den jungen Menschen genutzt werden.
Umfeld und Interesse
Es ist gut, dass der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger nun endlich mal ein Forschungsprojekt zum Thema aufgelegt hat – Schluss also mit der Behäbigkeit im Umgang mit einem zentralen Thema der nächsten Jahre. Möglicherweise wird die Erkenntnis unter anderem die sein, dass sich Verlage Gedanken über ihr Produktportfolio machen müssen. Denn junge Zielgruppen sind mit ziemlicher Sicherheit nicht daran interessiert, in gedruckter oder digitaler Form Bündel von Nachrichten zu bekommen, die man auch noch selbst bewerten und sortieren muss. Es ist noch nicht einmal sicher, ob die lokale Nachricht, die gerade für regionale Zeitungsverlage ja das Kerngeschäft ist, ein Verkaufsargument ist. Für viele junge Menschen wird die lokale Nachricht, die wir heute als wichtig bewerten, wenig relevant sein, weil es andere Umfelder und Interessenlagen gibt – über die wir aber eben, siehe oben, nichts wissen.
Ein Stochern im Nebel also, und dabei wäre ein koordiniertes Vorgehen der Verlage so wichtig und sinnvoll. Gemeinsam Mut zum Experimentieren zu haben, Mut zu Investitionen in diese Experimente statt in Kinderschminken.
So sieht der Alltag aus In meinem Haushalt leben zwei Mädchen, acht und zwölf Jahre alt. Ihre Mutter ist Journalistin, deren Mann Chefredakteur. Zeitungslesen gehört von morgens bis abends zum Alltag, das Beschaffen von Informationen auf allen Kanälen genauso. Keines der beiden Mädchen nimmt jemals eine Zeitung in die Hand. Keines schaut eine Kindernachrichtensendung. Oder hört Kinderradio. Infos gibt es via WhatsApp, über YouTube (Facebook ist noch tabu) und so weiter. Vor allem die Ältere lebt in ihrem eigenen Kosmos mit eigener Community. Wie Hunderttausende ihrer Generation auch. Zu diesem Kosmos gehört keine publizistische Marke. Nicht eine Sekunde lang. Ein Kosmos ohne Zeitung. Es gibt ihn schon.
Text: Horst Seidenfaden
Pingback: Kinder und Zeitung: Ein Kommentar zur Kindermedienkonferenz | Kassel-Live